Ehrlich jetzt?

„Ehrlich währt am längsten.“ Diesen Spruch haben viele von uns vermutlich schon in ihrer Kindheit eingetrichtert bekommen. Ist ja prinzipiell auch eine gute Sache, diese Ehrlichkeit. Lügen führen meist zu Verstrickungen, Schwierigkeiten und jeder Menge peinlicher Momente. Außerdem: basieren nicht sämtliche wahren Verbindungen die wir in unserem Leben eingehen auf Ehrlichkeit? Gut, wenn ich da an den Wiener Baulöwen und Opernballbeauftragten Richard Lugner und seine gefühlt achte Ehefrau denke (ein silikonimplantiertes Blondchen Anfang 20), könnte ich mir vorstellen, diese Beziehung basiert auf etwas anderem als ehrlichen Gefühlen. Wobei die Dame das große Geld mit Sicherheit wirklich ehrlich liebt. Wie dem auch sei – in der Regel ist Ehrlichkeit eine feine Sache…

…dachte ich mir, und wurde – es ist kaum zu glauben – mal wieder überrascht. Denn in der Unterhaltung mit einem sehr netten Mann kam irgendwann die unvermeidliche Frage: „Und wie lange bist du schon Single?“ (Ganz nebenbei bemerkt kann ich mich nicht erinnern, diese Frage meinerseits schon einmal gestellt zu haben – weil es mir einfach ziemlich egal ist und ich nicht erkennen kann, dass das etwas über die jeweilige Person aussagt. Männer finden das aber immer höchst interessant, genau wie die Anzahl bisheriger Sexualpartner.) Ich überlegte – was war hier angebracht? Die knallharte Wahrheit? Oder eine gut gemeinte Lüge? Was ist auf diese Frage überhaupt die „richtige“ Antwort? Es gibt einfach immer furchtbar viel Interpretationsspielraum. Sagt man

  1. „Ach, seit einem halben Jahr erst.“ – wirkt das wie: Ich bin über meinen Ex eigentlich noch nicht hinweg, versuche aber, mich abzulenken und zu trösten. Was Festes will ich nicht. Kann ich ja noch gar nicht wollen. Wenn der Ex allerdings um die Ecke kommt und vor mir auf die Knie fällt, würde ich ihn sofort mit Handkuss zurücknehmen. Und heiraten.
  2. „Seit ungefähr zwei Jahren.“ – klingt das nach: Ich hatte ein bisschen Zeit, abzuschließen, mich auszutoben und bin jetzt bereit für eine neue große Liebe.
  3. „Puh…fünf Jahre ist das mindestens schon her.“ – wirkt das, gelinde gesagt, irritierend. Was? So lange schon? Da kann ja was nicht stimmen…heimlich bin ich wahrscheinlich ein verkappter Psychopath, der bindungsunfähig ist. / Wahlweise klingt es auch wie: Hallo erstmal, ich bin die von der Resterampe. Mich will keiner. Und jetzt würde ich alles nehmen, was nicht bei Drei auf dem Baum ist.

Als ebenjener Mann, nennen wir ihn A., mir die Frage nach der Dauer meines Single-Daseins stellte, überlegte ich also erst einmal. Er wirkte nett und sympathisch und ich wollte es nicht gleich vergeigen. Letztlich hat mich meine Kindheit aber wohl doch mehr geprägt als gedacht – und ich entschied mich für die schlichte, schnöde, ungeschönte Wahrheit. Weil ich mir dachte: Lügen, das ist einfach nichts. Und keine gute Basis. Nie. Ich sagte: „Seit sechs Jahren.“ Und was war die Reaktion darauf? „Oh…das macht mich jetzt etwas stutzig.“ Verwirrung. Irritation. Mist. Was jetzt? Sollte ich die mich erklären? Sagen: „Pass auf, ich hatte vorher eine vierjährige Beziehung, in der ich mich gefangen fühlte. Dann war ich krank und für längere Zeit außer Gefecht gesetzt und konnte gar niemanden kennenlernen. Außerdem wollte ich auch niemanden kennenlernen, ich wollte mich nicht festlegen, mich ausleben und jung sein. Oh und jetzt ist meine Figur nicht so wie sie sein sollte – das ist auch nicht die ideale Voraussetzung dafür, Männer reihenweise um den Finger zu wickeln.“ So masochistisch und dumm bin dann nicht einmal ich – deshalb antwortete ich ausweichend, schaffte es, das Gespräch wieder auf neutrales Terrain zu lenken und die Klippe zu umschiffen.

Das vorläufige Ergebnis: A. und ich haben noch Kontakt. Und nur fürs Protokoll: Wie lange er schon Single ist, habe ich  nicht gefragt. Tatsächlich will er mich treffen. Kennenlernen. Ich habe ihn also mit der geballten Wucht der Ehrlichkeit nicht vollends verschreckt. Noch nicht. Vielleicht sollte ich noch dazu sagen, dass diese Unterhaltung online stattgefunden hat. Da A. nicht direkt um die Ecke wohnt, konnte das Treffen noch nicht in die Tat umgesetzt werden, ist aber in Planung. Und zack – ist da wieder eine ehrliche Angst. Weil ich zwar ehrlich, aber doch nicht zu ehrlich war. A. hat Bilder von mir gesehen, zwar aktuelle Bilder, die mich zeigen, wie ich bin – die aber eher meine Vorzüge betonen als die gesammelten Nachteile. Das würde vermutlich jeder so machen. Trotzdem ist ein Bild anders als die Realität. Und deshalb habe ich Angst. Ich will ihn treffen – und rede mir gleichzeitig ein, dass mein Leben als Single doch auch nicht das schlechteste und Netflix ein wirklich guter Partnerersatz ist. Allerdings glaube ich mir da eben auch nicht vollständig.

Ich bin ein Mensch, der viel zu schnell sein ganzes Herzblut in eine Sache steckt, die noch nicht einmal eine Sache ist. Um mich wenigestens dieses eine Mal davor zu bewahren, mich Hals über Kopf auf etwas zu fixieren, habe ich mich mit einem anderen Mann verabredet. Einfach nur, um gemeinsam ein Glas Wein trinken zu gehen. Völlig harmlos. Den Mann finde ich nett, aber nicht wirklich spannend. Er ist einer, der zumindest mir vermutlich nicht wird gefährlich werden können, auch wenn er gut aussieht. Genau deshalb ist zwar ein mulmiges Gefühl, aber keine Angst da. A. zum Beispiel sieht auf den ersten Blick gar nicht klassisch gut aus, hat aber eine interessante Persönlichkeit, die mich anspricht – darüber bin ich viel eher zu kriegen. Es ist verzwickt. Und ich bin zumindest diesmal froh, dass ich nicht ehrlich sein muss. Keiner von beiden hat mich gefragt, ob ich mich mit anderen Männern verabrede – folgerichtig muss ich nicht lügen. Genau aus diesem Grund frage ich auch nicht nach, wie A. das handhabt: ich will nicht angelogen werden. Eine unschöne Wahrheit will ich aber auch nicht hören.

Würde ich gefragt werden, würde ich wahrscheinlich gar nicht lügen. Denn Ehrlichkeit ist wichtig. Auch, wenn sie ungemütlich ist – sie ist doch die Grundlage jeder zwischenmenschlichen Beziehung. Deshalb sollte ich mich auch meiner Angst stellen, ehrlich sein und mich zeigen, wie ich bin. Ihn treffen. Und einfach herausfinden, ob er meine interessante Persönlichkeit vielleicht auch mehr schätzt als klassische Schönheit.